Arme Verwandte

Eine Übersetzer-Satire von Roman Zukowsky

Die Ehe von Josef K. war zerrüttet und so zog er in eine Stadt am anderen Ende der Bun-desrepublik.

Durch den Ehestress war es ihm früher nicht aufgefallen, dass seine Augenkraft nachgelas-sen hatte. Er musste zum Arzt, und zwar zum Augenarzt. Im Internet fand er mehrere Praxen, die allesamt mit Erfahrung und Kompetenz warben. Nach einigen Anrufen traf er seine Wahl. Als Kassenpatient ging er in die Praxis mit dem frühesten verfügbaren Termin.

In ihrer modernen, geräumigen Praxis in der Stadtmitte begrüßte ihn Dr. A., Absolventin einer namhaften deutschen Universität. Zum Abschluss der Untersuchung legte ihm die Halbgöttin in Weiß noch eine Augendruckmessung nahe. Deren Kosten würden allerdings nicht durch die Kasse übernommen. Anhand der Beratung wog Josef K. das Kosten-Nutzen-Verhältnis ab, doch er kam nicht auf die Idee, um den Preis zu feilschen.

Eines schönen Tages brachte der Postbote die Scheidungsklage seiner Noch-Ehefrau und Josef K. musste sich einen Anwalt nehmen. In der Stadt wimmelte es von Anwaltskanzleien, doch er wusste, er brauchte nicht irgendeinen Rechtsanwalt, sondern einen Fachanwalt für Familienrecht. Im Internet fand er mehrere Spezialisten, die allesamt mit Erfahrung und Kompetenz warben. Ehrlich gesagt traf er seine Wahl – weitgehend unbewusst – nach den emotionalen Komponenten der Internetpräsentation.

In einem riesigen Konferenzraum ihrer noblen Kanzlei begrüßte ihn Rechtsanwältin B., Ab-solventin einer namhaften deutschen Universität. Kurz und prägnant erklärte ihm die Halb-göttin in Schwarz die Rechtslage und skizzierte das weitere Vorgehen. Auf seine schüchterne Frage, was ihr Beistand kosten würde, legte sie die geltende Gebührenordnung vor und errechnete den Betrag. Josef K. kam nicht auf die Idee, bei anderen Familienanwälten Ver-gleichsangebote einzuholen.

Endlich als freier Mann beschloss Josef K., seine neue Lebensgefährtin zu heiraten. Sie kam aus Prag. Auch sie war geschieden – noch in der Tschechei. Für das hiesige Standesamt mussten jedoch ihre Geburtsurkunde und ihr Scheidungsurteil in der deutschen Sprache vor-liegen. Josef K. war etwas unsicher, ob er dafür einen Dolmetscher oder einen Übersetzer brauchte. Im Internet fand er mehrere Sprachmittler. Sie alle warben mit kurzen Terminen und niedrigen Preisen. Er traf seine Wahl.

Im kleinsten Zimmer ihrer Wohnung im Mehrfamilienhaus am Stadtrand begrüßte ihn Frau Dipl.-Übers. C., Absolventin einer namhaften deutschen Universität. Der Raum war mit Bü-chern und Fachzeitschriften bis zur Decke gefüllt, ihr Schreibtisch diente zugleich als Konfe-renztisch. Sie prüfte die zu übersetzenden Dokumente und nannte ihm den Termin und den Preis. Die erste spontane Reaktion von Josef K. war: Das ist aber teuer!

Nach der Hochzeit kehrte Ruhe in das Leben von Josef K. ein und eines Abends analysierte er seine Haltung gegenüber den Damen A., B. und C. Über grundlegende Kenntnisse der Medizin verfügt jeder Mensch, doch ohne eine staatliche Zulassung als Arzt darf niemand medizinische Beratungen vornehmen, außer im engsten Familienkreis. Das Gleiche gilt für Juristen. Einer Karriere als Sprachmittler dagegen stehen keine amtlichen Zulassungsverfah-ren im Wege. Jeder, der meint, eine Fremdsprache zu beherrschen, darf auf dem Markt agieren.

Die neue Frau K. beschloss, ein Übersetzungsbüro zu gründen.

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