Perlenfluss

Ein Reisebericht von Roman Zukowsky

An der Mündung des Perlenflusses – des drittgrößten Flusses Chinas – liegt die Stadt Guangzhou, auch Kanton genannt. Bis zum offenen Meer sind es allerdings noch 120 km, eine ähnliche Distanz wie von Hamburg bis zur Nordsee. Am östlichen Rand des Perlenfluss-Deltas liegt Hongkong, am westlichen, in etwa 70 km Entfernung, Macau. Zwischen Hongkong und Macau verkehren Schnellboote. Diese Katamarane fahren im 15-Minuten-Takt, und die Überfahrt dauert eine Stunde. Parallel dazu wird eine 28 km lange Brücke gebaut.

Beide Enklaven gehören zu den weltweit am dichtesten besiedelten Gebieten. Hier leben 100-mal mehr Einwohner pro Quadratkilometer als in Deutschland. Macau ist flach, Hongkong ist gebirgig. In Hongkong wird daher in die Höhe gebaut. Ein Meer von Hochhäusern mit 40 und mehr Stockwerken auf einem mikroskopisch kleinen Grundstück. Manchmal nur eine Wohnung pro Etage. Ein Wunder der modernen Baukunst. Manhattan ist nichts dagegen.

Auch der Verkehr ist mehrstöckig. Die Straßenbahnen sind ausnahmslos Doppeldecker, die meisten Busse ebenfalls. Der Straßenverkehr ist auffallend leise, Elektroautos der oberen Klasse sind keine Seltenheit. Eine moderne U-Bahn verbindet alle Stadteile, eine S-Bahn fährt in 24 Minuten zum Flughafen auf der Insel New Territory. Es herrscht die britische Ordnung mit einem Schuss chinesischem Ambiente.

Bis 1997 war Hongkong britisch, und Macau war bis 1999 portugiesisch. Dann wurden sie an China übergeben. Nicht auf einen Schlag; es war eine hundertjährige Übergangszeit vereinbart worden. Nördlich von Hongkong erstreckt sich eine Sonderwirtschaftszone, Shenzhen, und nördlich von Macau Zhuhai. Völkerrechtlich ist dieses Gebiet ein Staat mit Innengrenzen und drei verschiedenen Währungen. Der chinesische Yuan oder Renminbi (Volkswährung), die Macauische Pataca und der Hongkong-Dollar haben einen sehr ähnlichen Wert von ca. 0,12 €. Nur in Macau aber kann mit der Fremdwährung Hongkong-Dollar bezahlt werden.

Ein Besuch Chinas ist sehr lohnenswert. Direkt hinter dem Grenzübergang Macau/Zhuhai steht ein supermoderner Bahnhof, und ein Busbahnhof versteckt sich unter einem Einkaufszentrum. Der Bus nach Guangzhou fährt gut zwei Stunden durchgehend über Autobahnen mit der erlaubten Geschwindigkeit von 100 km/h. Es ist wohl ein Tribut an Amerika, denn Verkehrslage und Fahrbahnzustand würden auch ein Tempo von 130 km/h erlauben. An Bord des Busses ist WLAN frei zugänglich, und die Bandbreite erlaubt eine Online-Verfolgung der Route. Der Zug benötigt für die gleiche Strecke etwa eine Stunde.

50 Jahre nach der Vision von Mao Zedong vom „Großen Sprung nach vorn“ hat China diesen Sprung in einem atemberaubenden Tempo und unbemerkt von der restlichen Welt vollzogen. Zu vergleichen ist diese Entwicklung mit der Europas an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Damals sind in kürzester Zeit die an einem Reißbrett entworfenen und mithilfe von einfachen Maschinen produzierten U-Bahnen von Budapest, London, Paris und Berlin entstanden. Heute wird mit CAD und computergesteuerten Maschinen gearbeitet. Die Ergebnisse sind entsprechend monumentaler.

Während New York sich seit dem 2 Weltkrieg eine einzige neue Subway-Station geleistet hat und in Berlin an der Erweiterung der U-Bahn Linie 5 um 3,5 km vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof seit 20 Jahren gebuddelt wird, sind in denselben 20 Jahren in Guanzhou 260 km Metro mit 10 Linien und 203 Stationen entstanden (Stand Dezember 2016). Weitere 13 Linien sind geplant. Alle Züge bestehen aus 8 Wagen mit 5 Türen pro Seite und sind somit länger als die Subway Trains in New York, die im internationalen Vergleich ohnehin als sehr lang gelten. Die Ansagen zum Fahrtverlauf erfolgen auf Chinesisch und auf Englisch, die Informationstafeln sind vollständiger und verständlicher als die in den New Yorker Wagen. Und natürlich verfügen alle Züge über WLAN.

Die U-Bahn fährt zum Flughafen und zu den Bahnhöfen. Vom Haizhu-Platz in der Stadtmitte bis zu dem 14 km entfernten Südbahnhof dauert die Fahrt 28 Minuten. Obwohl der Südbahnhof aus 26 Gleisen besteht, ist die Fußstrecke von der U-Bahn-Station zum Aufgang kurz. Von diesem Bahnhof fahren auch die Schnellzüge nach Peking ab. Für die 2000 km benötigen die Tageszüge 8 Stunden. Ein Nachtexpress fährt gemütlicher und legt die Strecke in knapp 11 Stunden zurück. 2000 km das ist eine Distanz wie von Frankfurt nach Istanbul oder von Berlin nach Madrid. In 8 Stunden mit der Bahn! In China gibt es 16 solcher Hochgeschwindigkeitstrassen: 8 in horizontaler Richtung (Ost–West) und 8 in vertikaler (Nord–Süd). Und in Deutschland wird an einer Bahnstrecke von Würzburg nach Erfurt seit der Wiedervereinigung gearbeitet.

China ist zwar ein riesiges Land, aber dennoch mit Europa vergleichbar. Sowohl flächen- als auch bevölkerungsmäßig ist es gerade doppelt so groß wie die EU-28. Seine rasante Entwicklung verdankt es unter anderem einer straffen politischen Führung. Es wird gearbeitet und nicht diskutiert. Vor gut 10 Jahren hat das ZDF eine Sendung über einen chinesischen Bauern ausgestrahlt, der sein Haus partout nicht aufgeben wollte und zwangsenteignet wurde. Das Haus lag direkt in der Mitte der geplanten Autobahn. Wie hat man die Unmenschlichkeit des Regimes angeprangert! In unserer Demokratie wäre so etwas nicht möglich. Auf unsere Demokratie sind wir stolz. Bei uns wird per Referendum abgestimmt, ob in Karlsruhe eine Straßenbahnstrecke von 5 Haltestellen unterirdisch verlegt werden soll. Und fällt das Ergebnis negativ aus, wird ein neues Referendum angeordnet. Nun ist Karlsruhe seit 10 Jahren aufgerissen.

Die Einreise nach China ist einfach. An der Grenze bekommt man schnell und unbürokratisch ein 4-Tage-Visum zum Festpreis von 168 Renminbi (nur Barzahlung, Preis für deutsche Staatsbürger). Dafür muss man aber ein Quantum Mut zeigen und über die Grenze der „freien Welt“ hinausgehen. Die Visastelle befindet sich nämlich nach der Ausreisekontrolle. Vor der Ausreise ist es kaum möglich, diese Information zu bekommen. Sowohl in Macau als auch in Hongkong wird man auf ein Reisebüro verwiesen, wo nach einer Bearbeitungszeit von 2 Arbeitstagen und zum Preis von 1800 Renminbi das Visum besorgt werden kann.

So versteht man langsam, warum die iPhones und die iPads in China und nicht in dem Hochtechnologieland Deutschland zusammengebaut werden. In Deutschland sind wir außerstande, einen beheizten Warteraum im Prachtbahnhof am Frankfurter Flughafen zu stellen. In Deutschland, im Bahnhof von Karlsruhe sitzt in einer Januarnacht eine Flüchtlingsfamilie mit 4 kleinen Kindern auf dem Boden, in der SB-Stelle der Spardabank, weil offensichtlich nur noch eine Bank sich hierzulande einen öffentlichen beheizten Raum leisten kann. Die Flüchtlinge wissen nicht, dass es auch weiterentwickelte Regionen als Europa auf der Welt gibt.

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